Die Kinderlähmung (Poliomyelitis) ist eine durch das Poliovirus ausgelöste Infektionskrankheit, die die Nervenzellen im Rückenmark befallen kann und somit oft zu erheblichen Lähmungserscheinungen führt.
Nur sehr selten führt die Ansteckung mit dem Poliovirus jedoch zur gefürchteten Kinderlähmung. Oft verläuft die Infektion ohne Symptome oder löst nur grippeähnliche Krankheitszeichen aus. Tritt jedoch die schwere, paralytische, Form der Erkrankung ein, liegt die Sterblichkeit der Betroffenen bei 20 Prozent. In den meisten dieser Fälle von Kinderlähmung sind Kinder bis zum achten Lebensjahr betroffen, nur selten machen Erwachsene die Infektion durch.
Durch die konsequente Durchführung der Polioimpfung kommt Kinderlähmung in Deutschland nicht mehr vor und ist nur noch in Asien und Afrika anzutreffen. Der letzte Fall von Polio in Deutschland war 1990.
Kinderlähmung wird durch das Poliovirus ausgelöst, einem sogenannten Enterovirus. Enteroviren sind eine Art von Erregern, die sich im oberen Gastrointestinaltrakt, also Mundraum, Speiseröhre, Magen und Dünndarm vermehren, und von dort aus im Körper ausbreiten. Sie können noch bis zu sechs Wochen nach der Infektion im Stuhl der Erkrankten nachgewiesen werden. So lange sind die infizierten Personen auch ansteckend für Andere.
Das Virus wird hauptsächlich über den Mund aufgenommen. Man unterscheidet drei Serotypen der Polio-Viren:
Zwischen den drei Erregertypen gibt es keine Kreuzimmunität, das heißt, eine Infektion mit einem der drei Serotypen schützt nicht davor, sich später erneut mit einem anderen Typ des Virus zu infizieren.
Es wird durch Schmierinfektionen unter schlechten hygienischen Bedingungen übertragen, wenn Fäkalien über die Nahrung in den Verdauungstrakt gelangen. Seltener kann die Ansteckung auch durch Tröpfcheninfektion erfolgen, also durch Sprechen, Husten oder Niesen.
Nachdem das Virus in den Verdauungstrakt gelang ist, vermehrt es sich im Darm und greift von dort aus zunächst auf die Lymphknoten über.
Schon wenige Stunden nach der Infektion ist der Betroffene auch für andere Personen ansteckend. Von den Lymphknoten aus tritt das Virus dann in die Blutbahn über (Virämie) und kann so das Rückenmark erreichen. Polioviren befallen bevorzugt Nervenzellen im Vorderhorn des Rückenmarks. So nennt man den vorderen Teil der grauen Substanz, also dem Teil, der die Zellkörper der Nervenzellen enthält. Diese Nervenzellen sind die sogenannten alpha-Mononeurone. Sie sind für die Steuerung der Muskulatur verantwortlich.
Der Körper reagiert auf diesen Befall des Rückenmarks, in dem er Abwehrzellen (Leukozyten) zu den Nervenzellen sendet, die dort eine Entzündungsreaktion auslösen. Dadurch werden die Nervenzellen jedoch noch mehr geschädigt und letztendlich zerstört.
Meist ist neben den Nervenzellen im Rückenmark auch das Gehirn selbst von der Erkrankung mitbetroffen. Dieser Befall des Gehirns bleibt jedoch in der Mehrzahl der Fälle unbemerkt. Nur selten kommt es dabei zum Befall von Hirnnerven, wodurch beispielsweise die Funktion des Kehlkopfes beeinträchtigt werden kann und die Kinder Schwierigkeiten beim Sprechen und Atmen entwickeln. Diese Form der Poliomyelitis wird als bulbäre Form bezeichnet.
Die Inkubationszeit, also der Zeitraum von der Ansteckung bis zum Ausbruch der Infektion, beträgt 7 bis 14 Tage.
95 Prozent der Fälle von Infektionen mit dem Poliovirus verlaufen ohne Symptome, das Kind hat also keine Anzeichen einer Erkrankung. Es kommt trotzdem zur Bildung von Antikörpern gegen das Virus, sodass die Infizierten unbemerkt immun gegen die Krankheit werden.
Es ist ebenfalls möglich, dass die Infektion als sogenannte abortive Poliomyelitis verläuft. Abortiv steht hier für „abgekürzt" oder „abgeschwächt" und meint, dass die Erkrankung in den meisten Fällen folgenlos ausheilt und das zentrale Nervensystem nicht infiziert. Die Betroffenen entwickeln lediglich grippeähnliche Symptome wie Fieber, Abgeschlagenheit, Halsschmerzen und zum Teil auch Durchfall und Erbrechen.
Nur bei etwa fünf bis zehn Prozent der Patienten, die nach einer Infektion mit dem Poliovirus Krankheitszeichen entwickeln wird tatsächlich auch das zentrale Nervensystem betroffen. Die oben beschriebene abortive Form ist dann das Vorstadium der eigentlichen Erkrankung.
Nach diesem Vorstadium sind die Kinder meist zunächst eine Woche beschwerdefrei, bevor die Krankheitszeichen einsetzen. Auf die beschwerdefreie Phase folgt dann eine nicht eitrige Hirnhautentzündung (aseptische Meningitis), die noch keine Lähmungserscheinungen auslöst. Die Kinder sind dabei Nackensteif, können also ihr Kinn nicht mehr in Richtung Brust bewegen, und haben Fieber und Kopfschmerzen.
Nur etwa bei etwa einem Prozent der Infizierten, die auch Krankheitszeichen entwickeln, tritt eine paralytische Poliomyelitis auf, die schwerste Verlaufsform der Erkrankung, die als die „Klassische" Kinderlähmung gefürchtet wird. Sie kann auch nach einem beschwerdefreien Intervall von zwei bis zwölf Tagen noch auftreten und verläuft in zwei Phasen:
Etwa 20 Prozent der Betroffenen, die an der paralytischen Form von Polio erkranken, sterben an den Folgen der Kinderlähmung. Bei den übrigen Patienten bilden sich die Lähmungserscheinungen meist innerhalb eines Jahres wieder zurück, in einigen Fällen können Lähmungen und Durchblutungsstörungen jedoch als Folgeerscheinung bestehen bleiben.
Gelenkbeschwerden und Deformitäten der Knochen können aufgrund der Fehlhaltung durch die Lähmung eine Folge der Erkrankung sein. Die Lähmung tritt meist asymmetrisch (ungleichseitig) an Beinen oder Armen auf, wodurch sich die betroffenen Muskelgruppen zurückbilden. So kommt es oft zusätzlich in der betroffenen Körperregion auch zum Wachstumsrückstand bei Kindern, das gesunde Bein wächst also schneller als das gelähmte. So kann sich eine Fehlhaltung entwickeln, wie beispielsweise eine Skoliose, also eine Verkrümmung der Wirbelsäule, oder Fußdeformitäten und Haltungsschäden, die auch nach dem Rückgang der Erkrankung durch die lange Fehlbelastung noch bestehen bleiben.
Eine Spätfolge, die erst Jahre nach der eigentlichen Erkrankung auftreten kann, ist das Post-Poliomyelitis Syndrom. Die Betroffenen haben Ermüdungserscheinungen, Muskelschmerzen und Muskelschwund in früher betroffenen Muskeln. Es können auch Atem- oder Schluckbeschwerden auftreten oder Muskelgruppen betroffen sein, die im Laufe der Kinderlähmung nicht beeinträchtigt waren.
Schon der Verlauf der Erkrankung in zwei Phasen sind erste Anzeichen für das Vorliegen einer Poliomyelitis. Spätestens beim auftreten der ersten Lähmungserscheinungen sollte dem Verdacht einer Infektion mit Polioviren nachgegangen werden.
Wenn die Symptome Nackensteifigkeit, Fieber und Kopfschmerzen auftreten, wird der Arzt in jeden Fall Hirnwasser (Liquor cerebrospinalis) entnehmen um dieses zu untersuchen. Dabei werden im Falle einer Polioinfektion erhöhte Zellzahlen in der Liquorprobe auffallen und der Eiweißwert wird etwas erhöht sein.
Das Virus selbst kann aus dem Stuhl, einem Rachenabstrich oder dem Liquor cerebrospinalis isoliert und nachgewiesen werden. Kann das Virus selbst nicht nachgewiesen werden, können auch Antikörper gegen das Virus, die im Blut des Patienten vorkommen, die Diagnose sichern.
Liegt eine Infektion mit Polio-Viren vor, muss dies dem Gesundheitsamt gemeldet werden.
Besonders im Vorstadium der Erkrankung muss die Poliomyelitis gegen alle anderen Infektionskrankheiten, die Fieber auslösen abgegrenzt werden.
In der Phase der Hirnhautentzündung ist es auch wichtig auszuschließen, dass diese durch andere Erreger verursacht wurde. Bakterien wie Meningokokken, Pneumokokken können ebenfalls eine Meningitis auslösen, genauso wie andere Arten von Enteroviren, beispielsweise die Coxsackie Viren.
Da die Poliomyelitis eine Erkrankung ist, die durch Viren ausgelöst wird, gibt es keine Therapie, die die Ursache der Krankheit beseitigt. Es können deshalb nur die Symptome gelindert werden. Das Kind sollte in jedem Fall Bettruhe einhalten, außerdem kann eine physikalische Therapie eingeleitet werden, dazu zählen Wärmetherapie sowie eine Verabreichung von UV- oder Infrarotlicht oder Massagen der betroffenen Körperregionen.
Gegen die Schmerzen können antientzündliche Medikamente oder Schmerzmittel wie Paracetamol oder Ibuprofen gegeben werden.
Bei Verdacht auf das Vorliegen einer bulbären Verlaufsform sollte das Kind in jedem Fall intensivmedizinisch überwacht werden.
Um der Erkrankung prophylaktisch vorzubeugen, sodass es gar nicht erst zu einer Infektion kommen kann, existiert eine Impfung, die von der STIKO (ständige Impfkomission) für alle Kinder unter 18 Jahren empfohlen wird.
Die Grundimmunisierung findet meist im Säuglingsalter zusammen mit anderen Impfungen statt. Sie wird in einer Kombinationsimpfung mit Keuchhusten, Hepatitis, Haemophilus influenza, Pneumokokken und Meningogokken empfohlen und muss zwischen dem 9. und 17. Lebensjahr aufgefrischt werden.
Diese Impfung wurde schon 1962 durchgeführt, ist aber zunächst als sogenannte Schluckimpfung mit abgeschwächten Polio-Erregern verabreicht worden. Diese Art der Impfung bring jedoch den Nachteil mit sich, das die geimpften Personen die abgeschwächten Viren, die sich trotzdem vermehren können, mit dem Stuhl ausscheiden. So könnte das Virus auf nicht geimpfte Personen durch Schmierinfektionen übertreten (Impfpoliomyelitis). Es wurde dann diskutiert, ob für die ungeimpften Personen dann möglicherweise die Gefahr einer Erkrankung besteht, oder ob diese lediglich ebenfalls immun gegen Poliomyelitis werden.
Seit 1998 erfolgt die Impfung deshalb mit einem Todimpfstoff, der sich nicht mehr vermehren kann. Dieser wird auch nicht mehr geschluckt, sondern gespritzt. Er schützt jedoch im Vergleich zur Schluckimpfung nicht vollständig sondern verursacht nur eine Immunität von 80 Prozent bei Typ I und II, bei Typ III beträgt der Impfschutz sogar nur 80 Prozent.
Nur ein Anteil von weniger als einem Prozent der mit Polio infizierten Personen entwickelt eine Lähmung.
Treten im Rahmen der Infektion mit dem Polio-Virus keine Lähmungserscheinungen auf, ist die Prognose sehr gut. Die Erkrankung heilt dann ohne Folgeschäden von selbst wieder ab.
Bei der schweren Form der Poliomyelitis, die mit Lähmungen auftritt besteht ein Risiko von bis zu 20 Prozent an der Erkrankung zu versterben. Etwa jeder zweite, der Lähmungserscheinungen im Laufe der Erkrankung entwickelte, behält eine Restlähmung bei.
Letzte Aktualisierung am 14.06.2021.