Säuglinge, die an plötzlich auftretenden und scheinbar unstillbaren Schreiattacken leiden sind sehr häufig und betreffen etwa fünf bis 30 Prozent aller Säuglinge. Das Verhalten wird bei sonst gesunden Säuglingen etwa ab der 2. Woche beobachtet und entwickelt sich in der Mehrzahl der Fälle nach drei bis vier Monaten zurück.
Per Definition liegt exzessives Schreien dann vor, wenn der Säugling über einen Zeitraum von drei Wochen, an mindestens drei Tagen pro Woche mehr als drei Stunden pro Tag schreit (Wessel Kriterium).
Als Ursache für das Schreien werden Koliken vermutet, was jedoch nicht bewiesen ist. Viele weitere mögliche Gründe für die Schreiattacken werden diskutiert, keine davon konnte jedoch belegt werden.
Die genauen Ursachen für die exzessiven Schreiattacken sind noch nicht ausreichend geklärt. Es existieren jedoch mehrere Theorien zu den Auslösern dieser Symptome.
Schreien gehört zunächst zur normalen Entwicklung des Kindes. Viele Autoren vertreten deshalb die These, dass das vermehrte Schreien in den ersten Lebenswochen des Kindes eine Anpassungsstörung des Säuglings außerhalb des Mutterleibs verdeutlicht. Das Baby ist zunächst überfordert von der Vielfalt an Reizen, die ihm die Welt bietet. Es benötigt eine gewisse Gewöhnungszeit um zu lernen, eine Übersicht über die Flut von Sinneseindrücken zu gewinnen. Dies wird durch das vermehrte Schreien zum Ausdruck gebracht.
Eine weitere Theorie besagt, dass das Kind unter Koliken (Drei-Monats-Koliken) leidet. Diese Koliken entstehen durch die starke Aktivität des Darms in der Wachstumsphase des Säuglings. Der Magen-Darm-Trakt passt sich dem Wachstum des Kindes nicht ausreichend an. Es kann dann zum einen zu einer vermehrten Darmbewegung (Peristaltik) als auch zu Auftreibungen des Darms (Blähungen) kommen, was beim Säugling krampfartige Beschwerden verursacht. Auch zu große Trink- und Nahrungsmengen und das Schlucken von Luft beim Trinken können zu Magen-Darm-Problemen führen. Es wird außerdem diskutiert, ob die gestörte Anpassung des Darms im Zusammenhang mit Passivrauchen steht. Statistisch gesehen tritt exzessives Schreien bei Kindern von rauchenden Müttern häufiger auf als bei Kindern von Nichtraucherinnen.
Neben organischen Ursachen können auch psychische und soziale Faktoren möglicherweise die Schreiattacken auslösen. Es wird vermutet, dass sich die nonverbale Verständigung von Eltern und Kind noch nicht ausreichend eingespielt hat. Die Gestik und Mimik des Kindes werden von den Eltern missgedeutet, was bei ihnen Schuldgefühle auslösen kann. Es entsteht eine Anspannung, die sich wechselseitig verstärkt und sich letztendlich in den Schreiattacken des Säuglings entlädt. Psychosoziale Belastungsfaktoren treten in Familien, die Probleme mit exzessivem Schreien äußern, vermehrt auf. Paarkonflikte der Eltern, Krankheiten, Armut, Ängste oder Depressionen wirken sich auf die Stimmung und somit auch auf die Eltern-Kind-Beziehung aus.
Bei Neugeborenen und Säuglingen ist es als normal anzusehen, wenn sie in den ersten Lebensmonaten für eine gewisse Zeit des Tages schreien. 60 Minuten Gesamtschreidauer pro Tag sind nicht ungewöhnlich. Auch sogenannte Schreibabys schreien nicht häufiger als andere Kinder, jedoch dauern die Schreiattacken wesentlich länger.
Während dieser Schreiepisoden sind die Kinder meist nicht zu beruhigen, sodass die Attacken von den Eltern nicht unterbrochen werden können. Das exzessive Schreien beginnt meist in der zweiten Lebenswoche des Kindes und nimmt oft bis zum Erreichen der sechsten Lebenswoche noch zu. Die Schreiattacken treten oft gegen Abend auf. Das Gesicht des Säuglings läuft dabei rot an, der Oberkörper wird meist nach hinten überstreckt, Arme und Beine sind angewinkelt. Alle Versuche das Kind zu beruhigen, sei es durch Spieluhren, Schnuller oder Abdunkeln des Zimmers, zeigen keine Wirkung.
In der Mehrzahl der Fälle nehmen die Schreiattacken im dritten Lebensmonat wieder ab. Nur selten haben die Kinder diese Episoden bis zum sechsten Lebensmonat.
In der Diagnostik sollten besonders die psychosozialen Belastungsfaktoren innerhalb der Familie berücksichtigt werden. Auch eine körperliche Untersuchung des Säuglings ist im Anschluss unerlässlich, um eine körperliche Erkrankung auszuschließen. Die Diagnose Schreibaby ist eine Ausschlussdiagnose, das heißt sie wird erst gestellt, wenn der behandelnde Arzt jede andere in Frage kommende Ursache für das Schreien ausgeschlossen hat.
Fällt ein Säugling durch exzessive Schreiattacken auf, ist deshalb zunächst ein ausführliches Gespräch mit den Eltern notwendig. Die Beziehung zwischen Mutter und Kind ist ein entscheidender Faktor in der Entwicklung des Säuglings. Ist sie aufgrund einer eventuellen Belastungssituation gestört, führt dies zu einer starken Anspannung beim Kind. Deshalb müssen im Gespräch zwischen dem Arzt und den Eltern des Kindes ein besonderes Augenmerk auf das Vorliegen von solchen Belastungssituationen gelegt werden.
Um das Familienleben besser besprechen zu können, werden von den Eltern des Kindes oft Verhaltensprotokolle angefertigt. Sie dokumentieren zum einen die Schreiphasen des Kindes, zum anderen auch die Versuche der Eltern, den Säugling zu beruhigen, sowie die Schlafphasen des Kindes. Durch die Protokolle kann der Arzt abschätzen, ob psychosoziale Faktoren eventuell die Ursache für das exzessive Schreien sein können.
In der körperlichen Untersuchung wird ausgeschlossen, dass das Kind keinen Infekt hat, der es zum Schreien bewegt. Außerdem wird die Unversehrtheit der Knochen und Gelenke überprüft. Des Weiteren sollte man nicht außer Acht lassen, dass Schreiepisoden im schlimmsten Falle auf eine Kindesmisshandlung hinweisen können.
Bei fünf bis zehn Prozent der sogenannten Schreibabys ist eine körperliche Erkrankung die eigentliche Ursache für das Schreien. Fällt ein Säugling durch vermehrtes Schreien auf muss deshalb sichergestellt werden, dass keine Krankheit der Auslöser der Schreiattacken ist. Mittelohrentzündungen, Infektionen der Atemwege und Blasenentzündungen sind Erkrankungen, die oft zu länger anhaltenden Schreiepisoden führen.
Auch Störungen im Bereich des Magen-Darm-Systems wie Verstopfungen, Blähungen, Entzündungen des Darms und Nahrungsmittelunverträglichkeiten können der Grund für vermehrtes Schreien sein.
Es sollte außerdem untersucht werden, ob nicht unerkannte Knochenbrüche, Schädigungen im Bereich der Nerven oder genetische Syndrome vorliegen, die möglicherweise die Schreiattacken auslösen.
Die wichtigste Maßnahme ist die Aufklärung der Eltern. Die Behandlung des exzessiven Schreiens muss immer individuell auf die Situation der betroffenen Familie abgestimmt werden.
Wurde sichergestellt, dass dem Schreien keine Erkrankung zugrunde liegt, kann der Arzt den Eltern Tipps für hilfreiche Verhaltensmaßnahmen geben und ihnen die Möglichkeit einer Familientherapie anbieten. Eine solche Eltern-Kind Psychotherapie kann den Eltern oft helfen, die Situation besser zu bewältigen. Meist reichen fünf Termine aus, um die Familie zu beraten und den Eltern Hilfestellung zu geben.
Als zusätzliche Maßnahme können die Eltern versuchen, den Säugling vor einer Überflutung mit Reizen zu bewahren. Schreiende Babys sind oft empfindlich gegenüber zu viel Anregung und Unruhe. Ein geregelter und ruhiger Tagesablauf ist deshalb wichtig, um Regelmäßigkeit in den Alltag des Kindes zu bringen.
Auch eine rauchfreie Umgebung ist wichtig für das Wohlbefinden des Kindes. Das Einhalten von regelmäßigen Tagesrhythmen und Schlafphasen hat sich ebenfalls als hilfreich erwiesen.
Neben all diesen Punkten ist es auch wichtig, dass sich die Eltern Auszeiten gönnen, um Überlastung, Anspannung und Erschöpfung zu vermeiden. Da sich das Schreien innerhalb weniger Monate meist wieder zurück bildet, werden keine Medikamente eingesetzt.
Das exzessive Schreien im Säuglingsalter hat im Normalfall keine Auswirkungen auf die weitere Entwicklung des Kindes, vorausgesetzt dem Schreien liegt keine organische Ursache zugrunde. Dabei sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass in etwa 15 Prozent der Fälle, die Schreiattacken durch eine Erkrankung ausgelöst werden. Insbesondere ist in diesen Fällen an eine Nahrungsmittelunverträglichkeit, wie beispielsweise eine Kuhmilchintoleranz, zu denken.
Sind organische Auslöser dieser Art jedoch ausgeschlossen worden, können die Eltern damit rechnen, dass das exzessive Schreien ihres Kindes sich nach drei bis vier Monaten wieder zurückbildet und mit spätestens sechs Monaten ganz verschwunden ist.
Letzte Aktualisierung am 28.06.2021.