Die anthroposophische Medizin versteht sich nicht als Gegensatz zur naturwissenschaftlichen Medizin, sondern erweitert diese um Erkenntnisse der anthroposophischen Geisteswissenschaft.
Die Anthroposophie wurde von Rudolf Steiner (1961 - 1925) begründet. Dieser studierte Naturwissenschaften und Philosophie und beschäftigte sich intensiv mit den naturwissenschaftlichen Werken Goethes, die seine Weltansicht veränderten. Er schloss sich um die Jahrhundertwende der „theosophischen Gesellschaft" an und beschäftigte sich mit der östlichen Mysterienreligion. 1912 gründete er schließlich die anthroposophische Gesellschaft.
Während des 1. Weltkrieges kam Steiner mit medizinischen Fragen in Kontakt. Zusammen mit der holländischen Ärztin Ita Wegman (1876 - 1943) begründete er die anthroposophische Medizin. Die Grundgedanken der neuen Heilmethode wurden von Steiner entwickelt und in Schriften und Vorträgen verbreitet. Steiner entwickelte außerdem die Pädagogik der Waldorfschulen, sowie die biologisch-dynamische Landwirtschaft.
Steiner verstand die anthroposophische Medizin als Erweiterung der konventionellen Medizin in Richtung anderer Geistebenen. In seiner Vorstellung von Gesundheit und Krankheit sind Elemente des traditionellen Gedankenguts vieler Länder verankert. Der Grundgedanke ist, dass jeder Mensch von 4 Wesensgliedern geprägt ist, mit denen alle Gesetzmäßigkeiten und Zusammenhänge des Lebens beschrieben werden:
Ätherleib, Astralleib und Ich-Organisation sind unsichtbar und nur durch eine besondere geschulte Wahrnehmung erkennbar. Aus dem Zusammenwirken der Wesensglieder entstehen drei Organsysteme, denen drei Seelentätigkeiten zugeordnet sind:
In der Vorstellung der anthroposophischen Medizin sind alle Krankheiten Äußerungen der Seele und des Geistes. Krankheiten treten dann auf, wenn die Wechselwirkungen der Wesensglieder in irgendeiner Weise gestört sind. Je nachdem welches Wesensglied dominiert, sind ihm Krankheitstypen zugeordnet:
Eine Krankheit stellt eine Möglichkeit für Körper, Geist und Seele dar, durch das Überwinden dieser zu lernen und neue Kräfte und Fähigkeiten zu erlangen. Dementsprechend ist es wichtig, dass der Körper den Prozess um gesund zu werden langsam vollzieht. Medizinisch tätig werden, bedeutet in diesem Sinn, den Organismus dabei zu unterstützen das Ungleichgewicht auszubalancieren. Medikamente aus natürlichen Substanzen sollen diesen Prozess, der auch „Dynamik" genannt wird, unterstützen, indem sie die Wesensglieder in ihrer Aufgabe entlasten und diese wieder wahrnehmen können. Die Arzneimittel sind dabei bestimmten Wesensgliedern zugeordnet:
Daneben gehören auch künstlerische Verfahren zu Behandlung: Heileurythmie, Musiktherapie, therapeutische Sprachgestaltung, Maltherapie, therapeutisches Plastizieren, sowie rhythmische Bewegungsbäder und Gesprächstherapie.
Die Kinderheilkunde hat sich als gesonderter Zweig in der anthroposophischen Medizin herausgebildet. Typische Kinderkrankheiten werden in eine enge Beziehung mit Krankheiten alter Menschen gestellt. Nach anthroposophischer Vorstellung ist es notwendig, dass ein Kind bestimmte Krankheiten durchsteht, da sonst die Neigung, die entsprechende Alterskrankheit zu bekommen, verstärkt wird. So werden auch empfohlene Schutzimpfungen gänzlich abgelehnt oder nur einige bestimmte (Tetanus, Diphtherie) durchgeführt.
Die Anthroposophie bildet ein geschlossenes System, dessen Denkweisen, Begrifflichkeiten und Ausdrucksweisen für Außenstehende schwer verständlich sind. Sie ist eng verbunden mit dem Glauben an übersinnliche Kräfte, kosmisch-irdischen Rhythmen und geistigen Wirkprinzipien verbunden. Solche Vorstellungen liegen außerhalb des naturwissenschaftlichen Denkens.
Die gegenseitige Beeinflussung vom körperlichen, geistigen und seelischen Befinden ist auch in der konventionellen Medizin anerkannt. Ebenso die tagesrhythmischen Schwankungen körperlicher Prozesse und die Berücksichtigung des lebensgeschichtlichen Werdegangs eines Patienten bei der Behandlung gehören zum etablierten medizinischen Wissen. Die Art und Weise, wie die anthroposophische Medizin die Zusammenhänge herstellt, beruhen jedoch auf dem medizinischen Wissen um 1900.
Die Zuordnung der Präparate zu den Krankheiten, aber auch ihre dynamische Wirkung, die unabhängig von der eingesetzten Substanz ist, beruht auf keinen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Oft werden die Ausgangssubstanzen bei der Herstellung der Präparate sehr großer Hitze ausgesetzt, die deren organische Einheit zerstört. Welche Inhaltsstoffe schließlich in den Präparaten enthalten sind und wie sie wirken ist nicht bekannt.
Üblicherweise wird die Diagnose mit Methoden der konventionellen Medizin gestellt. Zusätzlich können jedoch auch so genannte bildschaffende Methoden eingesetzt werden, die Frühstadien von Erkrankungen erkennen sollen. Außerdem sollen damit die Ausgangssubstanzen eines Arzneimittels auf ihre Eignung getestet werden. Zu diesen Methoden gehören:
Neben der Diagnose werden auch die Befindlichkeiten, wie Lebens- und Leidensgeschichte, Charakter, soziale und kulturelle Umgebung, für die Auswahl der passenden Behandlung herangezogen. Da sie verschiedene Ebene ansprechen sollen, werden sowohl Medikamente, die das Gleichgewicht des Körpers wiederherstellen sollen, aber auch künstlerische Methoden, die die Seele aktivieren sollen, eingesetzt. Intensive Gespräche sollen der Gesundung des Geistes dienen. Unterstützt wird die Therapie von einer Kost aus überwiegend pflanzlichen Lebensmitteln.
Die Ausgangsstoffe der Arzneimittel sind Pflanzen, Tiere, Salze, Metalle und deren Verbindungen, die auf spezielle Art verarbeitet werden. Nur so werden sie zu Medikamenten im anthroposophischen Sinn und vermehren ihre Dynamik. Metalle können in ihrer Reinform, aber auch in „vegetabilisierter" Form eingesetzt werden. Dazu wird der Boden von wesensmäßig passenden Pflanzen mit dem Metallsalz gedüngt. Werden die Pflanzen nicht zu Arzneimitteln verarbeitet, wird ihr Kompost für die nächste Generation als Dünger verwendet. Der Prozess dauert drei Jahre, bis die Pflanzen ganz vom Metall durchdrungen sein sollen.
Die anthroposophische Medizin darf nur von Ärzten angewandt werden, die sich neben der Medizin mit den anthroposophischen Lehren beschäftigen. Wie dies geschehen soll, ist nicht geregelt. So kann sich der Arzt selbständig oder mit Hilfe eines Mentors mit den Grundschriften der anthroposophischen Geisteswissenschaft und deren Anwendung in der Diagnostik und Therapie beschäftigen. Er kann jedoch auch eine von der anthroposophischen Gesellschaft anerkannte Ausbildungsstätte oder berufsbegleitende Veranstaltungen besuchen.
Anthroposophische Medikamente werden auch von Heilpraktikern verordnet oder zur Selbstmedikation von Menschen verwendet, die sich nicht mit der anthroposophischen Lehre beschäftigen.
Die anthroposophische Medizin findet bei allen akuten und chronischen Krankheiten Anwendung, bei denen noch die Selbstheilungskräfte aktiviert werden können. Dazu gehören auch schwere Krankheiten, wie Infektionen, Blutungen psychische Erkrankungen und Krebs.
Die bildgebenden Diagnoseverfahren sind nicht anerkannt und können eine konventionelle Diagnose nicht ersetzen.
Anthroposophische Arzneimittel können Alkohol enthalten und sollten nicht von Personen mit Alkoholproblemen, Leberkranken, Menschen mit Anfallleiden, Kindern unter 14 Jahren und während der Schwangerschaft oder Stillzeit eingenommen werden. Der enthaltene Alkohol kann außerdem die Wirkung anderer Arzneimittel, wie Schlaf- und Beruhigungsmittel, Psychopharmaka und starke Schmerzmittel, verstärken.
Die in der anthroposophischen Medizin vertretene Meinung, dass Krankheiten durchgestanden werden müssen, kann dazu führen, dass eine notwendige Behandlung versäumt wird oder verspätet angewendet wird.
Anthroposophische Medikamente können Schwermetalle wie Blei oder Quecksilber enthalten. Werden sie über einen längeren Zeitraum oder in höherer Dosierung eingenommen, können Vergiftungserscheinungen auftreten.
Werden wichtige Schutzimpfungen bei Kindern versäumt, können sie lebensbedrohlichen Krankheiten ausgesetzt sein.
Die von Anthroposophen empfohlene Säuglingsmilch entspricht nicht den EU-Richtlinien für Säuglingsmilch und ist keine optimale Ernährung für Säuglinge.
Die Wirksamkeit der anthroposophischen Medizin ist wissenschaftlich nicht nachgewiesen. Ihre Risiken sind bei vorschriftsmäßiger Anwendung eher gering. Zur Behandlung von Krankheiten ist die anthroposophische Medizin „nicht geeignet".
Letzte Aktualisierung am 13.09.2021.