Die Kinesiologie (griech. kinesis = Bewegung, logos = Wort/ Lehre) ist ein diagnostisches und therapeutisches Verfahren der Alternativmedizin. Sie beruht auf speziellen Muskeltests, mit denen Störungen im Körper erkannt und geeignete Medikamente gefunden werden.
Die Methode der Kinesiologie wurde in den 1960er Jahren von dem US-amerikanischen Chiropraktiker George Goodheart (1918 - 2008) entwickelt. Dieser war der Ansicht, dass die Kraft eines Muskels Aussagen über Krankheiten von Organen zulässt, da sie über sogenannte Meridiane miteinander verbunden sind. Das Buch „Der Körper lügt nicht" von John Diamond aus dem Jahr 1979 machte die Methode bekannt. Der Buchtitel wurde zum Motto des Verfahrens.
Schüler Goodhearts entwickelten das Verfahren der Kinesiologie weiter und es bildeten sich verschieden Varianten der ursprünglichen angewandten Kinesiologie heraus. Diese sind etwa Touch for Health, eine Art des Handauflegens, nach John Thie, sowie Edu-Kinestetik und Brain-Gym, beides gymnastische Übungen für Kinder, nach Paul E. Dennison. Des Weiteren wurden psychologische Programme, sowie eine Reihe weiterer Methoden zur psychologischen und psychotherapeutischen Behandlung entwickelt. Zu ihnen gehören etwa die integrative Kinesiologie (IK), behavioral kinesiology (BK) und transpersonal kinesiology.
Das Konzept der Kinesiologie beruht auf der Vorstellung, dass die Muskelstärke mit bestimmten Organen, der Psyche und den Emotionen im Zusammenhang steht. Eine Krankheit, Unverträglichkeit gegen bestimmte Lebensmittel oder Stressfaktoren, aber auch belastende Gedanken, seelischer Stress und ein gestörter Energiefluss, schwächen wichtige Muskelgruppen. Somit ist das Verfahren auch mit der Vorstellung der traditionellen chinesischen Medizin verknüpft. Diese spricht von einer im Körper kreisenden Energie und den auf den Meridianen liegenden Akupunkturpunkten. Kann diese Energie ungehindert fließen, befindet sich der Organismus in körperlicher und seelischer Harmonie. Das untersuchte Organ ist somit gesund und der zugehörige Muskel stark.
Die Vorstellung von den Energie- und Muskelblockaden wurde auch auf Lernschwierigkeiten bei Kindern übertragen und ein entsprechendes pädagogisches System, die Edu-Kinestetik, entwickelt. Dieses beruht auf der Annahme, dass Konzentrationsschwächen und Lernprobleme mit einer gestörten Zusammenarbeit beider Gehirnhälften und einem unausgewogenen Körpergefühl zusammenhängen. Durch Muskeltests können diese Störungen erkannt und mittels Körpertraining und Fingerdruckmassagen bestimmter Akupunkturpunkte behandelt werden.
Die aus der Kinesiologie und Edu-Kinestetik entwickelten psychotherapeutisch orientieren Programme sollen mit dem Muskeltest unbewusste Steuerungsmechanismen der Emotionen entdecken. Durch Meditation und Gespräche werden diese beeinflusst.
Der in der Kinesiologie angewandte Muskeltest beruht auf keiner wissenschaftlichen Grundlage, da er rein subjektiv ist und durch die Erwartungen des Anwenders manipuliert werden kann. Zudem hängt die wechselnde Muskelspannung von der Stimmungslage und der suggestiven Beziehung zwischen Anwender und Patient ab. Der Test und seine Interpretation sind nicht standardisiert. Auch die Vorstellungen, dass Lebensmittelunverträglichkeiten oder Medikamente die Muskelkraft beeinflussen, und die Konzepte über Lern- und Entwicklungsstörungen widersprechen den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen. Somit sind die Muskeltest nicht dazu geeignet, Unbewusstes aufzudecken und psychische Störungen oder Probleme zu diagnostizieren oder zu behandeln. In wissenschaftlichen Untersuchungen konnten die Ergebnisse der Kinesiologie nicht reproduziert werden. Sie spiegeln lediglich unbelegte Vermutungen der Anwender wider.
Die Diagnose wird mit Hilfe des Muskeltests gestellt. Bei diesem steht, sitzt oder liegt der Patient und hat einen Arm angehoben oder ein Bein angewinkelt, mit dem er Druck gegen den Widerstand der Hand des Anwenders ausübt. Während der Anspannung der Muskeln legt der Anwender seine andere Hand auf die Hauptregion des zu untersuchenden Organs. Hält der Muskel dem Druck stand, ist das Organ gesund. Gibt der Muskel nach, ist es in seiner Funktion eingeschränkt. Eine genaue medizinische Diagnose wird bei diesem Test nicht gestellt. Der Muskeltest kann eine Stunde oder länger dauern.
Einige Anwender stellen dem Patienten Fragen zum Zustand seiner Organe oder nach seinen Gefühlen. Diese beantwortet der Körper mit einer schwachen Kraft für „nein" und einer starken Kraft für „ja". Außerdem kann auch die Muskelkraft gemessen werden, indem der Patient mit beiden Händen auf eine Waage drückt. Des Weiteren wird auch gelegentlich das Fehlen von Spurenelementen oder die Unverträglichkeit von Speisen und Getränken getestet. Hierzu hält der Patient die zu prüfende Substanz in den Händen während der Muskeltest durchgeführt wird.
In der Edu-Kinestetik wird der Muskeltest eingesetzt, um die Ursachen von Lernproblemen zu identifizieren. Dem Patienten werden dabei Fragen zu stressauslösenden Faktoren und Hemmungen gestellt. Ähnlich wird die Diagnose in der psychologischen Kinesiologie gestellt. Während dem Muskeltest werden Fragen gestellt, um seelische Blockaden und konfliktreiche Situationen aus der Kindheit aufzuspüren. Zudem wird mit sogenannten Biotensoren, einer Variante der Wünschelrute, festgestellt, ob der Patient von negativen Gedanken anderer Personen beeinflusst wird.
In der Kinesiologie werden die zur Behandlung der gefundenen Störung benötigten Medikamente ebenfalls durch den Muskeltest ermittelt. Hierbei wird das Medikament, bei dem es sich üblicherweise um Homöopathika, Naturheilmittel oder Mittel anderer alternativmedizinischer Verfahren (beispielsweise Bachblütenmittel) handelt, auf die Region des gestörten Organs gelegt und der Muskeltest durchgeführt. Ebenso kann der Patient das Mittel auch in der Hand halten. Diese Überprüfung wird solange wiederholt, bis das geeignete Medikament gefunden ist. Die Behandlung geschwächter Muskeln und gestörter Regionen erfolgt zudem auch mit Druckmassagen bestimmter Reaktions- und Akupunkturpunkte.
Verspannungen, die von geistig-emotionalen Problemen verursacht werden, werden bei Touch for Health mit zusätzlichen Berührungen der Hand behandelt. Auf diese Weise werden die Verspannungen gelöst und Kopf- und Rückenschmerzen gelindert. Nach der Behandlung wird erneut der Muskeltest durchgeführt und so überprüft, ob sie erfolgreich war.
Bei der kinesiologischen Bewegungspädagogik werden nach der Untersuchung mentale und körperliche Übungen durchgeführt. Diese sollen das Kind ausbalancieren, erden und von Stress befreien.
In der psychologischen Kinesiologie werden dem Patienten Nahrungsergänzungsmittel verabreicht. Zudem werden während des Muskeltests Gespräche geführt und Meditation verordnet. Die Arbeit mit Visualisierungen und die Behandlung des „Ätherleibs" werden ebenfalls angewendet.
Die Behandlung umfasst eine Serie von fünf bis 20 Sitzungen, die im Wochenabstand durchgeführt werden.
Übungsblätter, nach denen daheim täglich trainiert werden soll, sollen die Besserung der gestörten Lernleistung bezwecken. Die enthaltenen Übungen umfassen das Schwingen mit dem Oberkörper, Schwerkraft-Antischwerkraft-Energiefluss-Übungen, mit den Armen eine liegende Acht in die Luft zeichnen, Arme und Beine kreuzen, bestimmte Punkte an Kopf und Hals drücken. Kinder sollen die Ohren sanft von innen nach außen und von oben nach unten ziehen, um so besser hören zu lernen.
Eine internationale Gesellschaft, die ihren Sitz und einen Verlag in den USA hat, fördert die ursprüngliche Methode und ihre Varianten. Zudem verbreiten die Idee nationale Gesellschaften und lehren den Muskeltest in Kursen für Ärzte und Vertreter anderer Heilberufe. Auch Anwender selbst geben die Technik und ihre Varianten weiter. Eine einschlägige Berufserfahrung oder Qualifikation ist zum Erlernen der Methode nicht notwendig.
Das Verfahren wird von Ärzten für Naturheilkunde, Zahnärzten, Heilpraktikern, Masseuren und Physiotherapeuten angewendet. Auch Lehrer, Bewegungstherapeuten und Gesundheitsberater praktizieren die Kinesiologie. Sie ist zudem unter Laien weit verbreitet.
Zur Edu-Kinestetik und ihren Varianten ist reichhaltige Literatur vorhanden, die sich in erster Linie an Pädagogen richtet. Früher war das Verfahren in einigen Bundesländern Bestandteil der Lehrerfortbildung. Die kinesiologische Bewegungspädagogik wird von Lehrern und Laien im Bereich der Lern und Nachhilfe angeboten, aber auch von Logopäden und Psychotherapeuten praktiziert.
In verschiedenen Instituten und Workshops wird das Verfahren gelehrt. Angeboten wird die psychologische Kinesiologie von Psychotherapeuten und Laien.
Die Kinesiologie soll bei allen Befindlichkeitsstörungen, Organfunktionsstörungen, psychosomatischen Erkrankungen, Verspannungen und Erkrankungen des Bewegungsapparates helfen. Zudem können mit ihr blockierte Energie oder Stressoren diagnostiziert und behandelt werden. Mit der Methode kann ein Mangel an Spurenelementen und eine Lebensmittelunverträglichkeit festgestellt werden.
Mittels Muskeltest sollen laut der Methode jene Medikamente identifiziert werden können, die die gefundene Störung oder Fehlfunktion behandeln können. Von Zahnärzten wird die Kinesiologie angewendet, um den Kieferschluss und die Funktion der Kiefergelenke zu kontrollieren. Die Kinesiologie soll auch zu einer Besserung von Befindlichkeitsstörungen führen und die Selbstheilungskräfte anregen.
Die Edu-Kinestetik soll Lernblockaden, Konzentrationsstörungen, Legasthenie und ähnliches diagnostizieren und heilen. Zudem sollen die Sprachfähigkeiten verbessert werden.
Die Psychologische Kinesiologie wird eingesetzt, um unbewusste seelisch-emotionale Blockaden und ungelöste seelische Konflikte aufzuspüren. Sie soll helfen, die gebundene Energie zu lösen, Stress und Lebenskrisen zu meistern und psychosomatische Störungen zu beseitigen. Auf diese Weise werden Suchtprobleme und Zwangsvorstellungen therapiert sowie die Bewältigung von Schmerzen trainiert. Auch Partnerprobleme werden mit dieser Methode gelöst und Wirtschaftsstrategien erarbeitet.
Die Anwendung der Kinesiologie bringt das Risiko mit sich, dass falsch-negative bzw. falsch-positive Diagnosen gestellt werden. Auch ist es möglich, dass unnötige oder nicht geeignete Medikamente eingenommen und unnötige Diäten eingehalten werden. Eine notwendige und wirksame Behandlung kann dadurch versäumt werden.
Durch Anwendung der Methoden können die Ursachen von Lernstörungen und seelische Erkrankungen nicht erkannt und die notwendige Behandlung versäumt werden.
Das Ausbleiben einer notwendigen Behandlung kann besonders bei Kindern zu schwerwiegenden Folgen führen.
Die Ergebnisse der Diagnose mittels Muskeltest besitzen keine Aussagekraft. Die Kinesiologie und ihre Varianten bergen ein hohes Risiko an Fehldiagnosen und falschen Behandlungsempfehlungen. Damit fällt die Nutzen-Risiko-Abwägung negativ aus und die Kinesiologie ist als diagnostisches Verfahren „nicht geeignet".
In Studien konnte die therapeutische Wirksamkeit der Kinesiologie und ihrer Varianten nicht belegt werden. Da das Risiko der Fehlbehandlung groß ist, fällt die Nutzen-Risiko-Abwägung negativ aus. Die Kinesiologie und ihre Varianten sind somit zu Behandlung von Krankheiten „nicht geeignet".
Letzte Aktualisierung am 13.09.2021.