Die manuelle Medizin ist die manuelle Einwirkung auf Muskeln und Gelenke mittels bestimmter Handgriffe. Sie dient der Diagnose und Therapie von Störungen und Erkrankungen. Oft wird der Begriff Chirotherapie gleichbedeutend mit manueller Medizin verwendet. Bei der Chiropraktik (griech. „cheir" = Hand, „praktikos" = tätig, wirksam) und der Osteopathie handelt es sich um Vorläufer und noch angewendete Varianten der manuellen Medizin.
In vielen Kulturen ist das Heilen mit Handgriffen an der Wirbelsäule und den Gelenken bekannt. Erste schriftliche Berichte hierzu können bei den Chaldäern (10. bis 6. Jh. v. Chr. in Babylonien) gefunden werden. Die Grifftechniken der sogenannten Gliedersetzer, Knochenrichter und Ziehleute wurde in der Volksmedizin oft von Generation zu Generation weitergegeben. Die im deutschsprachigen Raum angewandten Techniken gehen auf verschiedene Wurzeln zurück. So sind sie einerseits aus der Volksmedizin hervorgegangen und beruhen andererseits auf der Chiropraktik und der Osteopathie.
Begründer der Methode war Daniel David Palmer (1845-1913), der verschiedene Handgrifftechniken erlernte und sie Chiropraktik nannte. Er setzte sie ein, um zahlreiche Erkrankungen zu behandeln. Später entwickelten sich verschiedene dogmatische Schulen. Nach vielen öffentlichen Auseinandersetzungen erhielt die Chiropraktik 1987 die staatliche Anerkennung im Gesundheitssystem der USA. In Deutschland wird die Technik hauptsächlich von Heilpraktikerschulen und privaten Vereinigungen verbreitet.
Die Osteopathie wurde von Andrew Taylor Still (1827-1917) entwickelt. Dieser gründete 1894 die Schule für Osteopathie in den USA. Still ging davon aus, dass alle Krankheiten auf Strukturfehler in den Gelenken und in den Bindegeweben (Faszien), die die Organe umhüllen, zurückgehen. In den USA fand die Osteopathie eine rasche Ausbreitung und gehört heute zu den anerkannten Methoden. Das Verfahren wird in den europäischen Ländern überwiegend von Heilpraktikern und Physiotherapeuten angewendet. Zudem hat es sich in vielen Rehakliniken und im niedergelassenen Bereich etabliert.
Die manuelle Medizin hat sich in Mitteleuropa nach dem zweiten Weltkrieg aus Chiropraktik und Osteopathie entwickelt. Dabei wurden Grifftechniken aus beiden Methoden übernommen und teilweise abgewandelt. Einige deutsche Hochschulen lehren seit 1973 die Chirotherapie bzw. manuelle Medizin. In diesem Jahr wurde auch die Deutsche Gesellschaft für Manuelle Medizin gegründet, die die Interessen der Manualmediziner vertritt. Auch in anderen europäischen Ländern hat sich die Methode in der Medizin etabliert. Sie wird in Arztpraxen, orthopädischen Krankenhäusern, Rheuma- und Rehakliniken angewendet.
In der Chiropraktik wird davon ausgegangen, dass viele Krankheiten durch Fehlstellungen und Einklemmungen (Subluxationen) der Wirbelgelenke und der dadurch beeinträchtigten Leitfähigkeit der Nerven hervorgerufen werden. Das „Einrichten verschobener Wirbelgelenke" ist der einzige Weg zur Gesundheit. Ursprünglich wurden auch Infektionen als Krankheitsursache angesehen. Das Immunisieren durch Impfen wurde abgelehnt, da es mit „unvertretbaren Nebenwirkungen" verbunden sei. Auch heute noch ist diese Theorie teilweise vertreten.
Die Vorstellungen Palmers, dass Krankheiten durch Veränderungen der Wirbelsäule und Gelenke hervorgerufen werden und nur das Einrichten dieser der alleinige Weg zur Gesundheit sind, beruhen auf keiner wissenschaftlichen Grundlage. Dadurch kommt es zu einer Fehlbeurteilung anderer Krankheitsursachen, die zu der Ablehnung von Impfungen führen. Ein solches Verhalten ist irrational und risikobelastet.
Die Osteopathie geht davon aus, dass alle Strukturen des Körpers eigenen Rhythmen folgen. Sie beeinflussen sich gegenseitig in ihren Funktionen und Probleme an den Organen können auch in anderen Körperregionen Beschwerden auslösen. Osteopathische Griffe beeinflussen demzufolge nicht nur die Muskeln, sondern auch die Gewebe (Faszien), die die Muskeln und Organe umgeben. Durchblutung und Verspannungen im Gewebe normalisieren sich und die Beweglichkeit wird verbessert, was das gesamte Befinden heben soll. Das zentrale Ziel der Osteopathie ist nicht die Behandlung von Krankheiten, sondern die Anregung der Selbstheilungskräfte.
Das Konzept der Osteopathie, dass sie eine ganzheitliche Wirkung besitzt, ist wissenschaftlich nicht plausibel. Es ist nicht nachweisbar, dass die Methode die Selbstheilungskräfte anregt. Auch die besondere Rolle der Bindegewebe und die positiven Effekte durch ihre Stimulation können wissenschaftlich nicht belegt werden.
Der manuellen Medizin liegt die Theorie der vorübergehenden Funktionsstörung (Dysfunktion) der Wirbelsäule und der Gelenke sowie der reflektorisch (unwillentlich) gesteuerten Wechselbeziehung zu anderen Funktionssystemen zugrunde. Werden die Muskeln und Sehnen, die das Gelenk im Normalfall bewegen, überspannt, werden die Knochen, die das Gelenk bilden (Knochenpartner), festgehalten und in ihrer normalen Bewegung gehindert. Auch die Funktion der Nervenleitung und Gefäße werden durch die Muskelverspannung (Hartspann) beeinflusst, was zu einer weiteren Anspannung führt. Dadurch können Nacken- und Kopfschmerzen, Schwindelgefühl, Sehstörungen und Armkribbeln auftreten.
Zum Großteil sind die Theorien der manuellen Medizin wissenschaftlich bestätigt und in die konventionelle Medizin integriert. Beschwerden am Bewegungsapparat können durch die manuelle Korrektur von Funktionsstörungen im Gelenk effektiv gelindert oder beseitigt werden. Zudem sind die Techniken geeignet, um bei Untersuchungen Einschränkungen der Funktion der Gelenke zu erkennen. Nicht belegt ist der Zusammenhang zwischen blockierten Wirbelgelenken und Erkrankungen innerer Organe. Wirbelgelenke, die in ihrer Beweglichkeit blockiert sind, besitzen nur bedingt Einfluss auf bestimmte Organfunktionen. Probleme der Wirbelsäule können so beispielsweise zu einer verspannten Brustmuskulatur und zu einer eingeschränkten Atmung führen.
Bei der manuellen Therapie wie auch bei Osteopathie und Chiropraktik wird mit verschiedenen Griffen gearbeitet, bei denen der Anwender seine ganze Körperkraft einsetzt. Er ist zudem verpflichtet, vor Beginn der Behandlung über die möglichen Risiken ausführlich zu informieren.
Die Diagnose wird anhand der Krankengeschichte und der Beobachtung der Haltung und der Bewegung des Körpers gestellt. Durch Abtasten werden Gelenkblockaden und Muskelverspannungen, aber auch Veränderungen des Bindegewebes bestimmt. In der konventionellen Medizin werden zudem auch Röntgenbilder über die Beschaffenheit der Gelenke und eventuell Labortests, die Auskunft über eine rheumatische Erkrankung geben können, hinzugezogen.
Die Behandlung erfolgt im Sitzen oder Liegen und dauert 20 Minuten oder länger.
In der Chiropraktik werden verschiedene Griffe eingesetzt, die zum Teil mit einem lauten Knacken einher gehen. Dies ist besonders bei den Manipulationstechniken der Fall. Ursache für dieses Knacksen ist eine kleine Bewegung, mit der der Behandelnde einen raschen Impuls an das Gelenk abgibt. Er setzt dabei jedoch nur wenig Kraft ein. Durch diese Technik wird das Gelenk ein wenig über seine normale passive Bewegungsweite hinaus gedehnt. Werden Wirbelgelenke behandelt, wird der Körper des Patienten gedreht und gebogen. Auf diese Weise wird die richtige Stelle für die Kraftwirkung auf das Gelenk, das in seiner Bewegung eingeschränkt ist, gesucht. Die in der Chiropraktik angewendeten Mobilisationstechniken entsprechen denen der Osteopathie. Eine chiropraktische Behandlung besteht in der Regel aus 5 bis 20 Sitzungen.
Bewegungseinschränkungen von Gewebestrukturen und Gelenke werden bei der Osteopathie mit den Händen erfühlt. Mit Hilfe verschiedener Weichteiltechniken wird ihre normale Funktion durch Mobilisationen stimuliert:
Die Behandlung besteht aus 6 bis 12 oder mehr Sitzungen.
Die manuelle Medizin vereint Techniken der Chiropraktik und der Osteopathie und wendet Weichteiltechniken, Mobilisationen und Manipulationstechniken an. Ziel ist es, verspannte Muskelgruppen zu entspannen und so das Gelenkspiel eingeschränkter Gelenke zu ermöglichen. Bei den Weichteiltechniken wird ca. eine Minute mit der Fingerkuppe auf die spürbare Muskelverhärtung gedrückt. Dabei wird zuerst zunehmender und anschließend nachlassender Druck angewendet. Währen und nach der Behandlung können Schmerzen auftreten. Verspannte Muskeln werden zusätzlich längs und quer zur Faserrichtung gedehnt.
Die Mobilisierung erfolgt durch das behutsame Bewegen der Gelenke in die Richtung, in der sie eingeschränkt sind. Gleichzeitig fixiert der Manualmediziner der Gelenkpartner. Er zieht die Gelenkflächen auseinander, bewegt sie zueinander und/oder bewegt sie in ihrer normalen Bewegungsweite. Diese Bewegungen erfolgen langsam, rhythmisch und schmerzlos. Sie werden so oft wiederholt, bis der Bewegungsspielraum des Gelenks spürbar größer geworden ist. Auf diese Weise können die Wirbelgelenke und die Gelenke der Gliedmaßen behandelt werden. Die Behandlung wird im Abstand einiger Tage mehrmals wiederholt und besteht aus einer Serie von 6 bis 10 Sitzungen.
Auch in der manuellen Medizin werden Manipulationstechniken, also Techniken mit hörbarem Knacken, angewendet. Um eine Auswirkung der Manipulation auf die umliegenden Gelenke zu vermeiden, werden sie mit speziellen Griffen „verriegelt". Richtig durchgeführt, ist die Behandlung nicht schmerzhaft. Sie wird im Abstand von einigen Tagen, aber höchstens viermal wiederholt. Ist danach keine Verbesserung der Beweglichkeit des Gelenks erkennbar, sollte die Behandlung abgebrochen werden.
Isometrics ist eine spezielle Technik zur Selbstbehandlung. Hierbei wird ein bestimmter Muskel für 10 Sekunden angespannt und in einer anschließenden Entspannungsphase sanft gedehnt. Dieser Vorgang wird mehrmals wiederholt. Mit einer speziellen Atemtechnik kann diese Methode unterstützt werden.
Heilpraktikerschulen bieten Kurse in Chiropraktik an. Für die Ausübung der Methode ist jedoch kein Nachweis über den Besuch und den Abschluss eines Kurses erforderlich. Chiropraktiker dürfen keine Röntgenaufnahmen anordnen. Zudem sind sie oft auch nicht in der Lage Röntgenbilder zu interpretieren und Krankheiten zu erkennen, die eine Behandlung ausschließen.
Ausbildungen für Physiotherapeuten und Ärzte in der Osteopathie werden von der Deutschen Gesellschaft für Osteopathische Medizin und anderen Verbänden für Osteopathie angeboten. Der Abschluss besteht für Physiotherapeuten aus einem Zertifikat für Osteopathische Therapie bzw. aus einer Heilpraktikerprüfung. Ärzte erhalten ein Diplom für Osteopathische Medizin. Auch in Heilpraktikerschulen werden Lehrgänge in der Methode abgehalten. Zwar sind deutsche Osteopathen befähigt, Röntgenbilder zu interpretieren, sie dürfen jedoch keine Röntgenaufnahmen anordnen.
Fachärzte können sich in Deutschland seit 1979 in der manuellen Medizin weiterbilden. Deren Inhalte sind in der bundesweit geltenden Weiterbildungsverordnung festgelegt, die in Kursen der Berufs- und Fachverbände gelehrt und in einer kontinuierlichen Fortbildung aufgefrischt werden. Der Ausbildungsgang für Physiotherapeuten wird von den Spitzenverbänden der Krankenkassen festgelegt. Auf ärztliche Anweisung dürfen Physiotherapeuten mit einem Zertifikat die manuelle Medizin anwenden. Manipulationsgriffe an der Wirbelsäule dürfen sie jedoch nicht eigenständig durchführen. Masseure ohne Heilpraktikerzulassung dürfen die manuelle Medizin nicht anwenden.
In erster Linie wird die Chiropraktik heute zur Behebung von Gelenkproblemen, Rückenschmerzen und Verspannungen eingesetzt. Zudem wird sie auch bei Asthma, Fibromyalgie, Herz-Kreislauf-Problemen, Karpaltunnel-Syndrom, kindlichen Koliken, Kopfschmerzen, Migräne, Mittelohrentzündung, Ohrenerkrankungen, Regelbeschwerden, Unterleibsbeschwerden, Verdauungsproblemen und anderen Erkrankungen eingesetzt.
Ziel der Osteopathie ist die Stärkung der Selbstheilungskräfte. Als ganzheitliche Methode soll sie bei vielerlei Beschwerden eingesetzt werden können. Hauptsächlich wird sie bei Rückenschmerzen und Problemen des Bewegungsapparates angewendet. Die Technik wird auch speziell für Kinder bei Koliken und Wirbelsäulenverkrümmung von Säuglingen, bei Verhaltensstörungen, kindlichem Kopfschmerz durch Belastungen in der Schule und Teilleistungsstörungen angeboten.
Die manuelle Medizin wird in erste Linie bei orthopädischen Funktionsstörungen, wie vorübergehende eingeschränkte Beweglichkeit des Rückens und der Glieder, Muskelverspannungen, Rückenschmerzen sowie Beschwerden bei Tennisarm, Knie- und Hüftarthrosen, eingesetzt.
Der erforderliche enge Körperkontakt zwischen Patient und Anwender kann als unangenehm empfunden werden. In diesem Fall ist von einer Behandlung mit der manuellen Medizin abzuraten.
Kinder, deren Knochenwachstum noch nicht abgeschlossen ist, sollte nicht mit der Methode behandelt werden. Auskunft hierüber kann eine Röntgenaufnahme der Hand geben.
Da eine Schwangerschaft zu einer vermehrten Beweglichkeit der Gelenke führt, besteht durch Manipulationstechniken erhöhte Verletzungsgefahr.
Bei älteren Menschen ist bei der Anwendung von Manipulationen besondere Vorsicht angebracht. Das Risiko von Knochenbrüchen ist bei ihnen durch eine verringerte Knochendichte erhöht. Zudem ist von Manipulationen an der Halswirbelsäule aufgrund des erhöhten Risikos einer Minderdurchblutung des Gehirns abzuraten.
Die manuelle Therapie kann Müdigkeit auslösen. In dieser Zeit sollte keine Fahrzeuge gelenkt, keine Maschinen bedient und keine Arbeiten ohne sicheren Halt verrichtet werden.
Weitere Gegenanzeigen sind fortgeschrittene Osteoporose, Knochenbrüche, Bandscheibenvorfall, massive Abnutzungserscheinungen, Rückenmarkfehlbildungen, Blutungen, akute Infektionskrankheiten, Schlaganfall, Tumorleiden und Metastasen sowie Lähmungen, die von der Lendenwirbelsäule ausgehen (Kaudasyndrom).
Manipulationstechniken sollten aufgrund der besonderen Gefahren nicht im Bereich der Halswirbelsäule angewendet werden. Auch bei Einnahme gerinnungshemmender Medikamente sollten keine Manipulationen im Bereich der Halswirbelsäule durchgeführt werden.
Milde Nebenwirkungen wie Verschlimmerung der Schmerzen oder anhaltende Müdigkeit sowie vorübergehende lokale Beschwerden, etwa Schmerzen oder blaue Flecken, treten sehr häufig nach chiropraktischen Manipulationen auf. Zwar sind bei der Behandlung der Brust- und Lendenwirbelsäule Probleme seltener, dennoch kann es zu Wirbelverletzungen, Bandscheibenschäden, Nervenlähmungen und Verschlimmerungen bestehender Leiden kommen.
Manipulationen an der Halswirbelsäule können Schlagadern einengen oder beschädigen. Dadurch kann im schlimmsten Fall die Durchblutung des Gehirns leiden, was zu Schwindel und Ohrensausen führen kann. Zudem können Schäden auftreten, die einem Schlaganfall ähneln, wie Seh-, Sprach- und Bewusstseinsstörungen, Lähmungen und Tod.
Eine bestehende Überbeweglichkeit eines Gelenks kann durch zu häufige Manipulation noch verstärkt werden. Zudem erhöht sich die Gefahr von Verletzungen, wenn Nachbargelenke nicht „verriegelt" werden.
Werden vor einer manuellen Behandlung keine Röntgenaufnahmen zu Rate gezogen, um Ausschließungsgründe festzustellen, steigt das Risiko von Fehlbeurteilungen und Fehlbehandlungen.
Nachweise über eine therapeutische Wirksamkeit verschiedener manueller Techniken sind weder für Asthma noch für Regelbeschwerden (Dysmenorrhö), Karpaltunnel-Syndrom, Koliken bei Kindern, Kopfschmerzen, Nackenschmerzen, Rückenschmerzen und nicht von der Wirbelsäule ausgehende Schmerzen vorhanden. Auch für andere Beschwerden gibt es keine Nachweise. Da die Risiken der manuellen Medizin schwerwiegend sind und die Häufigkeit ernster Nebenwirkungen nicht abschätzbar ist, fällt die Nutzen-Risiko-Abwägung insgesamt negativ aus. Somit ist die manuelle Medizin zur Behandlung der genannten Erkrankungen „nicht geeignet".
Letzte Aktualisierung am 13.09.2021.