Die Neuraltherapie ist ein Verfahren zur Diagnose und Therapie von Erkrankungen. Durch das Einspritzen von lokalen Betäubungsmitteln (Anästhetika) unter die Haut werden Erkrankungen aufgespürt, Schmerzen gelindert und Krankheiten geheilt.
Die Neuraltherapie wurde maßgeblich durch die Ärzte Ferdinand und Walter Huneke entwickelt. Ferdinand Huneke (1891 - 1966) injizierte 1925 seiner an chronischer Migräne leidenden Schwester Procain versehentlich in die Vene statt in den Muskel. Statt schwerwiegenden Komplikationen wie Krampfanfällen und Herzrhythmusstörungen beobachtete Huneke eine schlagartige und bleibende Heilung. Ferdinand und Walter Huneke forschten daraufhin weiter an der therapeutischen Anwendung von Procain und entwickelten die sogenannte Segmenttherapie als Teil der Neuraltherapie.
Als Huneke 1940 die Unterschenkelwunde einer Patientin mit einer betäubenden Injektion behandelte, verschwanden ihre Schmerzen an der Schulter der gegenüberliegenden Körperhälfte. Er benannte dies als Sekundenphänomen und entwickelte daraus die sogenannte Störfeldtherapie, die er in den Mittelpunkt seiner Lehre stellt. Gleichzeitig entwickelten Huneke und seine Anhänger jedoch auch weitere Erklärungsmodell für ihre Methode.
1958 wurde die Internationale medizinische Gesellschaft für Neuraltherapie nach Huneke e.V. gegründet. Die Methode ist vor allem in Deutschland, Österreich, Italien und der Schweiz verbreitet.
Das Konzept der Neuraltherapie stützt sich auf zwei Grundsätze - die Störfeldtheorie und die Segmenttherapie.
Die Störfeldtheorie besagt, dass krankhafte Prozesse oder Veränderungen wie Verletzungen, Entzündungen oder Narben in einem Organ den Gesamtorganismus schwächen und Beschwerden in anderen Körperregionen verursachen können. Diese Störfelder (auch Herd, Fokus oder Irritationszentrum) können eine Zeit lang vom Körper ausbalanciert werden. Bestehen sie jedoch zu lange oder kommen andere Faktoren wie Infektionen oder Operationen hinzu, werden sie aktiviert und organische Leiden entstehen. Die häufigsten Störfelder befinden sich in den Mandeln, den Nasennebenhöhlen, der Zahn-Kiefer-Region, der Schilddrüse und in Narben und verheilten Knochenbrüchen. Huneke ging hierbei von drei Lehrsätzen aus:
Ob ein Störfeld tatsächlich aktiv ist, erkennen die Therapeuten daran, dass die Injektion eines lokalen Betäubungsmittels in ein Störfeld Beschwerden verschwinden lässt.
Die Segmenttheorie geht davon aus, dass eine nervale Verbindung zwischen Haut und Organen besteht und jeder Körperabschnitt einem Hautareal zugeordnet werden kann. Diese Bereiche werden Head-Zonen genannt. Ist nun die Haut in einer Zone besonders empfindlich, wird davon ausgegangen, dass es sich um eine Erkrankung in dem zugehörigen inneren Organ handelt. Durch eine Injektion in die Haut wird die Erkrankung behandelt, gelindert und geheilt. Die Anwendung der Lokalanästhetika erfolgt bei der Neuraltherapie nicht im herkömmlichen therapeutischen Sinn, sondern zur Regulierung des vegetativen Nervensystems und der Organsysteme.
Für die Wirkung der Neuraltherapie gibt es verschiedene Ansätze. So gilt die Wirkung des örtlichen Betäubungsmittels als Impuls für die Heilung. Eine andere Theorie besagt, dass nicht das Betäubungsmittel und sein schmerzlindernder Effekt zur Heilung führen. Vielmehr hat der Einstich einen Einfluss auf den gestörten Regelkreis ähnlich der Akupunktur. Ein weiterer Erklärungsansatz besagt, dass kranke Zellen im Gegensatz zu gesunden Zellen eine Nullladung besitzen. Durch die Neuraltherapie wird der Ladungsunterschied reguliert. Der Neuraltherapeut Otto Bergsmann geht davon aus, dass jedes Krankheitsgeschehen aufgrund der Vernetzung der Systemstrukturen im Körper auch alle anderen Strukturen beeinträchtigt. Dem gegenüber steht die Theorie des Arztes Alfred Pischinger, die nach der alle Informationen von der Flüssigkeit, die die Zellen umspült, verbreitet werden. Dazu gehören auch die krankmachenden Informationen. Alle Ansätze haben gemeinsam, dass die Injektion die entgleisten Regulationsvorgänge normalisiert und dadurch chronische Beschwerden gelindert werden können.
Die Suche nach dem Störfeld erfolgte früher durch sogenannte Provokationstests. Heute wird die wirksame Einstichstelle zur Behandlung durch Testinjektionen an verschiedenen Stellen gesucht. Es wird ausprobiert, wo ein starker Effekt erreicht werden kann.
Die Fernwirkung der Störfeldtheorie ist bisher nicht nachgewiesen worden. Zudem ist nicht eindeutig definiert, was ein Störfeld, Herd oder Fokus ist und welche Krankheiten dadurch hervorgerufen werden können. Die Annahme einer Verbindung zwischen Störfeld und einem entfernt erkrankten Organ beruht auf keiner wissenschaftlichen Grundlage. Die Betäubungsmittel blockieren nicht die vermuteten Störimpulse der kranken Zellen, sondern die Weiterleitung des Impulses der Nervenfasern. Zellen mit einem Nullpotential, die laut Dosch ein Störfeld darstellen, sind tot und können auch nicht wiederbelebt werden.
Da die Grundlage der Neuraltherapie, das Sekundenphänomen, nur sehr selten auftritt, wird es auf die suggestive Kraft des Therapeuten zurückgeführt. Die Suche einer geeigneten Einstichstelle kommt dem Prinzip von Versuch und Irrtum gleich und liefert nur selten verwertbare Aussagen. Ob Wurzelfüllungen und tote Zähne als Herde gelten, ist auch unter Neuraltherapeuten umstritten. Da entsprechende Sanierungseffekte nicht nachweisbar sind, sind die Therapeuten mittlerweile davon abgekommen, alle herdverdächtigen Zähne zu ziehen.
Der Erfolg der Schmerztherapie nach der Segmenttheorie wird auf die Blockade der Schmerzleitung zurück geführt. Das Lokalanästhetikum schaltet durch das Umspritzen von Nerven, Nervenenden, Nervenwurzeln und -knoten die Schmerzquelle aus. Dadurch werden die reflektorischen Muskelverspannungen und ihre vegetativen Begleiterscheinungen, die durch den Schmerz ausgelöst werden, verhindert.
Vor der Behandlung sollte eine ärztliche Untersuchung durchgeführt und die Krankengeschichte mit Vorerkrankungen und durchgeführten Operationen aufgenommen werden. Anschließend untersucht der Neuraltherapeut den Körper durch Abtasten und bestimmt den Ort der Schmerzen genau. Hierzu werden auch oft Injektionen verwendet. Wird der Schmerzbereich verstärkt, ist dies ein Hinweis auf ein Störfeld. Ebenso kann es jedoch auch darauf hindeuten, dass der vermutete Irritationsort nicht getroffen wurde. Das Auftreten eines Sekundenphänomens gilt als Beweis dafür, dass ein Störfeld gefunden und beseitigt wurde. Eine sofortige Besserung wird nicht als Fernstörung, sondern als eigenständige Erkrankung gewertet.
Die Behandlung mit der Neuraltherapie nach Huneke besteht aus der Segmenttherapie und der Störfeldsanierung. Bei der Segmenttherapie injiziert der Neuraltherapeut, nachdem er die empfindlichen Hautregionen ertastet hat, ein örtliches Betäubungsmittel, meist Procain, Lidocain oder Novocain, an verschiedenen Stellen dieser Region knapp unter die Haut. Auf diese Weise werden Schmerzen im Bewegungsapparat gelindert oder ein erkranktes Organ beeinflusst. Die Behandlung erfolgt mehrmalig im Abstand weniger Tage.
Zur Schmerzbehandlung können auch tiefe Stichtechniken eingesetzt werden. Hierbei wird die Injektionsnadel bis zu 12 cm tief in die sogenannten Triggerpunkte der Muskeln oder in Gelenke, Sehnen oder den Wirbelkanal gestochen.
Bei einer Störfeldsanierung werden um den Herd, der die Ursache für eine chronische Krankheit ist, mehrere Injektionen gesetzt. Auf diese Weise wird eine Fremdwirkung auf die erkrankte Region erreicht. Je nach Diagnose können auch Einspritzungen in die Magengrube, in den Bauchraum an die Eierstöcke heran, an die vegetativen Nervengeflechte des kleinen Beckens, in die Prostata, in den Nabel und in die Schilddrüse erfolgen. Durch wiederholte Behandlungen soll eine weitest mögliche Beschwerdefreiheit erzielt werden.
Die Internationale medizinische Gesellschaft für Neuraltherapie nach Huneke - Regulationstherapie e.V. regelt die Ausbildung zum Neuraltherapeuten für Ärzte, die mit einem Zertifikat abgeschlossen wird. Auch Heilpraktikerschulen bilden in der Neuraltherapie nach Huneke aus. Angeboten wird die Methode in freien Praxen von Allgemeinmedizinern und Orthopäden, in Kurkliniken und von Heilpraktikern.
Der Anwendungsbereich der Neuraltherapie ist sehr breit gefächert. Er umfasst von Kopf bis zum Unterleib und der Haut alle Organe. Beispielsweise können Bluthochdruck, Kinderlosigkeit und Zwölffingerdarmgeschwüre behandelt werden. Mit der Methode sollen außerdem unklare Beschwerden diagnostiziert werden können.
Lokale Betäubungsmittel finden in der konventionellen Medizin maßgeblich bei Schmerzen des Bewegungsapparats und Weichteilrheumatismus, aber auch bei Nervenschmerzen und Kopfschmerzen Anwendung.
Die Neuraltherapie nach Huneke sollte nicht bei schweren Herzrhythmusstörungen, ausgeprägter Herzschwäche, schwerem Bluthochdruck, Blutgerinnungsstörungen, während der Einnahme gerinnungshemmender Medikamente, bei Magengeschwüren, Infektionen im Behandlungsgebiet und bei einer bestehenden Allergie gegen das Betäubungsmittel eingesetzt werden.
Auch bei psychischen Erkrankungen, Erbleiden, Mangelzuständen, narbiger Organveränderung, fortgeschrittenen Infektionskrankheiten, Tumorerkrankungen, Myasthenia gravis und nach Röntgenbestrahlung ist von der Anwendung der Methode abzuraten.
Werden Herzmittel mit den Substanzen wie Diltiazem und Verapamil, das Schmerzmittel Pethidin, das Beruhigungsmittel Diazepam oder Mittel gegen Krämpfe mit dem Wirkstoff Phenytoin eingenommen, ist von einer Langzeitanwendung der Neuraltherapie abzuraten.
Betablocker und Calciumantagonisten können die Nebenwirkungen der Lokalanästhetika verstärken. Das Betäubungsmittel Procain kann die Wirkung der Antibiotika von Sulfonamid-Typ herabsetzen. Ebenso kann es die Wirkung von Cholesterasehemmern steigern.
Während der Schwangerschaft und Stillzeit und bei Kindern unter 14 Jahren sollte die Neuraltherapie nach Huneke nicht angewendet werden.
An den Einstichstellen können Infektionen und lokale allergische Erscheinungen wie Juckreiz und Rötungen auftreten.
Die Lokalanästhetika können zu einem Absinken der Pulsfrequenz, Störungen der Impulsleitung im Herz und Herzstillstand sowie Methämoglobinämie, die mit Blausucht, Kopfschmerzen und Atemnot einher geht, hervorrufen. Bei Menschen mit einer Überempfindlichkeit gegen örtliche Betäubungsmittel können Schwindel und Übelkeit und in seltenen Fällen auch gefährliche Nebenwirkungen am Zentralnervensystem auftreten. Diese äußern sich durch Brechreiz, Unruhe, Angstzustände, Zittern, Seh- und Sprachstörungen sowie Muskelzuckungen, epileptische Anfälle, Atemlähmungen, schwerwiegende Herzprobleme und Kollaps.
Vor allem bei der Verwendung von Procain können schwere allergische Reaktionen wie Anschwellen des Gesichts, des Mundes und Atemprobleme auftreten.
Wird die Injektion falsch gesetzt, bzw. wird zu schnell oder zu viel gespritzt, können Blutdruckabfall, Desorientierung, Unruhe, Zittern, Sprach- und Sehstörungen, Krampfanfälle, Muskelzuckungen und Fieber auftreten. Zudem besteht die Gefahr von Kreislauf- und Herzrhythmusstörungen und Herzstillstand.
Werden die tiefen Stichtechniken ohne Sichtkontrolle angewendet, kann es zu inneren Blutungen, Organverletzungen, Lähmungen und im schlimmsten Fall auch zum Tod kommen.
Für die Anwendungsgebiete Multiple Sklerose und myofasziales Schmerzsyndrom konnte die Wirkung der Neuraltherapie nach Huneke bisher nicht ausreichend nachgewiesen werden. Zu den anderen Anwendungsbereichen liegen keine Studien vor. Zwar treten Nebenwirkungen eher selten auf, trotzdem ist die Risiko-Nutzen-Abwägung insgesamt eher negativ. Die Neuraltherapie ist deshalb für die genannten Anwendungen „nicht geeignet".
Letzte Aktualisierung am 13.09.2021.