Bei der progressiven Mukelentspannung nach Jacobson (kurz PME) werden bestimmte Muskelgruppen willentlich und bewusst angespannt und entspannt. Dadurch wird eine fortschreitende Entspannung im gesamten Körper erreicht. Andere Bezeichnungen für das Verfahren sind progressive Muskelrelaxation oder Tiefenmuskelentspannung.
Die progressive Muskelentspannung wurde von dem amerikanischen Arzt und Physiologen Edmund Jacobson (1885-1976) entwickelt. Dieser beobachtete in den 1920er Jahren, dass Unruhe, Angst und psychische Spannung zu einer Anspannung der Muskeln führen. Zudem kannte er aus eigener Erfahrung die schmerzhaften Auswirkungen verspannter Muskeln auf die Befindlichkeit. In Versuchen der Selbstbehandlung beobachtete Jacobson, dass er sich besonders tief und angenehm seelisch entspannt fühlte, wenn er sich kräftig streckte und besonders die Muskeln von Armen und Beinen anspannte und wieder entspannte. Diese Beobachtungen von den Wechselwirkungen von psychischem Empfinden und muskulärer Spannung machte Jacobson zur Grundlage eines systematischen Entspannungsverfahrens. Nach der Vorstellung der Methode 1928 fand sie rasche Verbreitung in den USA. Sie wurde in vielen Bereich eingesetzt und schließlich in die Verhaltenstherapie übernommen.
Im deutschen Sprachraum findet die progressive Muskelentspannung hauptsächlich in psychosomatischen Kliniken, in der Psychiatrie und in der Rehabilitation Anwendung. Auch von niedergelassenen Psychotherapeuten und Bewegungstherapeuten wird die Methode angewendet.
Das Konzept der progressiven Muskelentspannung nach Jacobson beruht auf den Beobachtungen, dass ein Mensch auch unter Muskelverspannungen leiden kann, obwohl er völlig ruhig und entspannt ist. Diese Verspannungen wirken sich negativ auf die seelische Verfassung und den Körper aus. Durch die Entspannung großer Muskeln können Anspannungen in unwillkürlichen Muskelgruppen oder Organen gelöst werden. Jacobson machte im Gegensatz dazu die Beobachtung, dass die Muskelströme fast gegen Null gehen, wenn eine wirkliche seelische Entspannung vorhanden ist. Das System der progressiven Muskelentspannungen greift diese Beobachtungen auf und hat das Ziel, diese Muskelanspannungen als solche wahrzunehmen und aktiv zu lösen. Auf die aktiv herbeigeführte Muskelentspannung reagiert der Organismus körperlich, emotional und kognitiv (verstandesmäßig), wodurch ein Gefühl von Ausgeglichenheit, Ruhe und Konzentration entsteht.
Dass eine aktive Entspannung von Muskeln bereits bestehende Verspannungen lösen kann, ist wissenschaftlich erwiesen. Dies hat zur Folge, dass sich das willkürliche Nervensystem normalisiert: im sympathischen Nervensystem sinkt die Anspannung und im parasympathischen Nervensystem steigt die Aktivität. Es kommt zu einer Verbesserung der Blutzufuhr der Muskeln, der Sauerstoffverbrauch sinkt und die Anspannung der Muskeln, die an der Atmung beteiligt sind und der des Bewegungsapparates, wird verringert. Zudem sinken Herz- und Atemfrequenz, die durch Schwitzen erhöhte Leitfähigkeit der Haut und der Blutdruck. Weitere Effekte sind die Anregung der Durchblutung der Haut und der Alpha-Wellen, die den Grundrhythmus des elektrischen Potentials des Gehirns bilden.
Die progressive Muskelentspannung nach Jacobson wird in leichter Bekleidung im Liegen durchgeführt. Der Übende hat die Augen geschlossen, atmet ruhig und konzentriert sich auf den Körperbereich, in dem er Verspannung oder Unwohlsein verspürt. Nach den Anweisungen des Trainers werden bestimmte Muskelgruppen für fünf bis sieben Sekunden angespannt und für 10 bis 40 Sekunden entspannt. Dabei werden Veränderungen bewusst wahrgenommen. Die Übung wird wiederholt bevor an der nächsten Muskelgruppe gearbeitet wird.
Mit der Zeit stellt sich eine tiefe Entspannung ein, die am Ende der Sitzung durch rückwärts zählen, tiefes Einatmen und Öffnen der Augen zurückgenommen wird. Schließlich werden gemeinsam die aufgetretenen Reaktionen besprochen und Fehler korrigiert. Die Übungen werden nochmals wiederholt und im Sitzen eingeübt, was das Ausführen im Alltag erleichtert.
In der Regel wird die progressive Muskelentspannung in Gruppensitzungen, die etwa eine Stunde dauern, durchgeführt. Aber es sind auch Einzelsitzungen möglich. Meist besteht ein Kurs aus 5 bis 10 Sitzungen.
Die Technik der progressiven Muskelentspannung kann leicht erlernt und einfach im Alltag ausgeführt werden. Für einen lang anhaltenden Effekt sollte dreimal wöchentlich einige Monate lang trainiert werden.
Wird eine neue Übung erlernt, sollte sie mehrmals täglich ein Woche lang eingeübt werden. Dies kann mit Hilfe von Anleitungskassetten erfolgen. Mit einem sogenannten Entspannungssignal wird auf das Training eingestimmt. Um eine intensive Körperwahrnehmung zu erhalten, sollte regelmäßig trainiert werden. Es ist wichtig, die Entspannung jedes Mal zurückzunehmen.
Die Ausbildung in der Methode der progressiven Muskelentspannung nach Jacobson erfolgt in 60 Stunden umfassenden Kursen durch den Berufsverband. Sie können von klinischen Psychologen Psychotherapeuten, Bewegungstherapeuten und Ärzten besucht werden. Abgeschlossen werden die Kurse mit einem Diplom.
Anhand von Büchern und Kassetten oder in Kursen in Kliniken, Volkshochschulen oder anderen Bildungseinrichtungen können Interessierte und Patienten die Technik erlernen.
Im Rahmen der Verhaltenstherapie wird PME bei Beschwerden eingesetzt, die auf Angst und Anspannung beruhen. Hierzu gehören beispielsweise das Bewältigen von Stresssituationen und der Abbau von Nervosität und Unruhe. Andere Anwendungsgebiete sind psychosomatische Störungen wie Schlafstörungen, Muskelverspannungen und Muskelschmerzen, sowie Bluthochdruck, Verdauungsstörungen, Schluckbeschwerden, akute Kopfschmerzen und chronische Schmerzen. Außerdem wird die progressive Muskelentspannung auch als Begleittherapie von Angstbehandlungen und zur Unterstützung medizinischer Behandlungen, beispielsweise bei Krebserkrankungen oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen, eingesetzt.
Besonders perfektionistisch oder ehrgeizig veranlagte Menschen sollten keine Anspannungsübungen durchführen, da der innere Druck noch verstärkt werden kann.
Die progressive Muskelentspannung kann bei bestehenden Muskelkrankheiten die Beschwerden verschlimmern.
Bei psychischen Krankheiten wie schwerer Depression, Schizophrenie, Phobien und Persönlichkeitsstörungen ist PME als alleinige Behandlungsmethode nicht geeignet.
Durch die Anwendung der progressiven Muskelentspannung kann sich der Bedarf an blutdrucksenkenden Mitteln oder Mitteln gegen Angstzustände reduzieren. In diesem Fall muss eine Dosisanpassung mit dem behandelnden Arzt besprochen werden.
Die Anwendung der progressiven Muskelentspannung ohne ärztliche Diagnose und als alleinige Behandlung kann dazu führen, dass eine notwendige Behandlung bei bestehender Krankheit versäumt wird.
Das Training kann Müdigkeit verursachen. Deshalb sollten anschließend keine Fahrzeuge gelenkt, keine Maschinen bedient und keine Arbeit ohne sicheren Halt durchgeführt werden.
Bei Angstneurose, Asthma, Bluthochdruck, Migräne bei Kindern und Osteoarthrose ist der Nutzen der progressiven Muskelentspannung nach Jacobson als begleitende Behandlung nachgewiesen. Für positive Effekte bei chronischen Krebsschmerzen und nicht bösartigen chronischen Schmerzen sind keine Nachweise vorhanden. Da Risiken und unerwünschte Wirkungen nicht bekannt sind, fällt die Nutzen-Risiko-Abwägung für erstgenannte Erkrankungen positiv aus. Hier ist PME zur Behandlung „geeignet". Zur Linderung von Krebsschmerzen und nicht bösartigen Schmerzen ist die Methode „nicht geeignet".
Letzte Aktualisierung am 13.09.2021.